Das Schaudepot

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Ohne Bahnhof von Yüksel Pazarkaya, öffentliche Leseprobe, 3.5.2025, 15 Uhr

Der Autor Yüksel Pazarkaya prägte in den 60er Jahren wesentlich die türkisch-deutsche Theaterszene. Er schrieb für lokale und überregionale Tageszeitungen, mitbegründete die Studiobühne an der Technischen Universität Stuttgart, inszenierte mit türkischen und deutschen Ensembles, übersetzte Theaterstücke aus dem Türkischen und verfasste eigene. Sein Erstlingswerk ,Ohne Bahnhof‘ (uraufgeführt 1967, Theater der Altstadt Stuttgart) kann, laut dem Literaturwissenschaftler Erol M. Boran, als erstes Bühnenwerk eines türkisch-deutschen Autors gelten. Ebenfalls zum ersten Mal tritt hier ein sogenannter Gastarbeiter als Protagonist auf. Pazarkayas Stück ist heute weitgehend vergessen. Auf Initiative des Stuttgarter Schaudepots für die Darstellenden Künste wird jetzt, fast 60 Jahre später, Text und szenische Uraufführung neu gelesen und fortgeschrieben.

Am 3.5.2025 findet im Rahmen von ,Das Schaudepot – Spezial VIII‘ eine erste öffentliche Begegnung mit dem Text, Yüksel Pazarkaya sowie Özlem Özgül Dündar, Andreas Nikakis, Karina Pino und Nesrin Tanç als weiteren Gästen statt. 
Dramaturgie und Recherche: Felicitas Arnold. 

Nähe Informationen hier

Eine Produktion von Herbordt/Mohren, gefördert durch den Landesverband Freie Tanz- und Theaterschaffende Baden-Württemberg e. V. und die Landeshauptstadt Stuttgart.

Pazarkaya über Pazarkaya

,Ich bin überhaupt derjenige, der mit dem türkischen Theater in Deutschland begonnen hat. Schon in den sechziger Jahren verfasste ich zahlreiche Artikel zu dem Thema für die Stuttgarter Zeitung, die Stuttgarter Nachrichten und die Frankfurter Allgemeine Zeitung. 1961 war ich einer der Mitbegründer der Studiobühne der Universität in Stuttgart und leitete diese Gruppe zwischen 1963 und 1969 selbst. In dieser Zeit führte ich unter anderem die ersten türkischen Theaterstücke in Deutschland in eigener Übersetzung auf, aber auch Tschechow, Pinter, Brecht und so weiter; und auch mein eigenes Stück ,Ohne Bahnhof‘, das ich damals speziell für diese Gruppe schrieb. Das Projekt war Teil des Studiums Generale der Universität Stuttgart, die damals noch Technische Hochschule Stuttgart hieß. Wir hatten dort ein festes deutsches Ensemble. Jedes Semester erschien ein Programm. Mit den Stücken gingen wir zu den Festivals nach Erlangen und auch nach Istanbul. Zum Teil spielte ich selbst mit. Und parallel dazu inszenierte ich auch Stücke mit deutschen Amateur-Ensembles, zum Beispiel in Schwäbisch-Hall. Ich war übrigens auch der Erste, der nach dem Krieg in Princeton an der germanistischen Abteilung der Universität mit den Germanistikstudenten ein Stück in deutscher Sprache inszenierte. Das war ,Die Kleinbürgerhochzeit‘ von Bertolt Brecht im Jahr 1989. Damals war ich dort ein Semester lang Gastprofessor.‘

Yüksel Pazarkaya in Erol M. Boran: Die Geschichte des türkisch-deutschen Theaters und Kabaretts. Vier Jahrzehnte Migrantenbühne in der Bundesrepublik (1961-2004). Bielefeld: transcript Verlag. 2023. S. 360.

Textauszug ,Ohne Bahnhof‘

YÜKSEL PAZARKAYA

OHNE BAHNHOF

Schauspiel

 

(In diesem Augenblick kommt der Informationsbeamte der Bahn mit dem Fahrzeitenbuch unterm Arm. Der Journalist und der Fremde stehen auf und gehen zu ihm. Die Arbeiterin bleibt sitzen. Der Fremde zeigt dem Beamten seine Fahrkarte.)

JOURNALIST:
Als sei hier der ödeste Bahnsteig der Welt.

BEAMTER: (hebt den Kopf von der Fahrkarte des Fremden)
Haben Sie mir etwas gesagt?

JOURNALIST:
Ich sage – macht denn hier kein Zug einmal Halt?

BEAMTER:
Macht, macht schon. Nur Geduld.
(Kontrolliert wieder die Fahrkarte des Fremden.)
Dieser Zug kommt nicht zu diesem Bahnsteig. Sie sind hier falsch.
(Der Fremde versteht den Beamten nicht. Er versucht mit Gebärden klar zu machen, dass er ihn nicht versteht und zeigt ihm seine Armbanduhr, damit der Beamte ihm die Ankunftszeit des Zuges zeigt.)

JOURNALIST:
Er versteht die Sprache nicht, er ist Fremdarbeiter. 

BEAMTER:
Das sieht man, er ist auf dem falschen Bahnsteig. 

JOURNALIST:
Von welchem Gleis fährt sein Zug?

BEAMTER:
Das ist unwichtig.

JOURNALIST:
Ich verstehe Sie nicht.

BEAMTER:
Es ist nicht wichtig. Er ist einmal zum falschen Bahnsteig gekommen. Von hier aus kann er nirgends hin gehen. Zu den anderen Bahnsteigen gibt es von hier keinen Zugang. Zwischen den Bahnsteigen liegen Abgründe.

JOURNALIST:
Was wird dieser Mann jetzt machen?

BEAMTER:
Was soll er machen? Was alle anderen machen, wird er wohl auch machen müssen. Er wird warten und hoffen, dass zufällig ein Zug kommt, der zu seinem Zielort fährt. Oder er muss einen Zug nehmen und in einem anderen Ort in den richtigen Zug umsteigen. 

 

© Alle Rechte beim Autor

Erol M. Boran über ,Ohne Bahnhof‘

,Ein besonderer Stellenwert kommt /.../ Pazarkayas eigenem Stück ,Ohne Bahnhof‘ (1966) zu, das am 9. Mai 1968 [Anm. d. Red.: 1967] im Theater der Altstadt in Stuttgart uraufgeführt wurde und damit als erstes Bühnenwerk eines türkisch-deutschen Autors überhaupt gelten kann. Im Gegensatz zu den meisten seiner übrigen literarischen Werke, die Pazarkaya bis heute vorwiegend in seiner Muttersprache verfasst (und anschließend oft selbst übersetzt), schrieb er dieses Drama, das unter anderem einen Türken präsentierte, direkt auf Deutsch. Der Autor beschreibt: ,Hier trat zum ersten Male ein türkischer Gastarbeiter auf, völlig stumm vom Anfang bis zum Ende des Stücks. Es handelt sich um ein Fünf-Personen-Stück, alle Charaktere halten sich ständig auf der Bühne auf. Dieser Gastarbeiter ist also eine ganz zentrale Figur, spricht aber, wie gesagt, im gesamten Verlauf des Stückes kein einziges Wort. Er spielt schweigend mit, weil er damals noch kein Wort Deutsch kann.‘ (Ebd.) ,Ohne Bahnhof‘, dessen Titel auf einen der bevorzugten Aufenthaltsorte der Türken in den 1960er Jahren verweist, als sie noch keine eigenen Clubs und Vereine besaßen und ihnen deutsche Lokalitäten zum Teil versperrt waren (vgl. Terkessidis, Migranten, S. 20), ist ein vielschichtiges Drama, das inhaltlich und strukturell Bezüge zum Absurden Theater aufweist. Das Bild des schweigenden Türken ruft zunächst die restriktiven Darstellungen seitens deutscher Dramatiker in Erinnerung /.../. Anders als bei Strauß und Kroetz, deren ,Türken-Stücke‘ gegen 1980 erschienen, stellt Pazarkayas stummer Charakter jedoch keinen Anachronismus dar, sondern war zur Zeit, als er ,Ohne Bahnhof‘ verfasste, noch eine gelebte Realität. Zudem verleiht er seiner Figur eine ganz andere Tiefe und Komplexität, als dies bei den erwähnten Stücken der Fall war.‘

 

Erol M. Boran: Die Geschichte des türkisch-deutschen Theaters und Kabaretts. Vier Jahrzehnte Migrantenbühne in der Bundesrepublik (1961-2004). Bielefeld: transcript Verlag. 2023. S. 98 f.

Foto:  Yüksel Pazarkaya