Taumeln von Anderwald + Grond
Einleitung ‚Taumel als Phänomen der Sinnstiftung‘
R: Danke vielmals für die Einladung. Wir freuen uns sehr, hier zu sein. Wir sprechen heute über Taumel und Balance und wir werden das in Folge über ein paar körperliche Übungen auch erfahrbar machen.
L: Und dass ihr euch auch ein bisschen auskennt, was passiert: Wir werden das erlebbar machen und dann das Erlebte wieder kontextualisieren, damit wir besser verstehen und fühlen können, was mit uns passiert, wenn wir ins Taumeln kommen. Das deutsche Wort Sinn hat bereits eine Doppelbedeutung. Sinn als Sinnhaftigkeit und Sinneseindruck. Das französische Wort „les sens“ fügt dem noch die Orientierung hinzu, denn die Frage „dans quel sens“ fragt nicht nur danach, in welchem Sinn etwas zu verstehen sei, sondern auch, in welche Richtung man sich wenden müsse. Das englische Wort „sense“ wiederum beinhaltet den Dreiklang von Sinnhaftigkeit, Sinneserfahrung und Emotion. In unserer künstlerischen Forschung über den Taumel verstehen wir Taumel also nicht nur als ein Phänomen des sensorischen Inputs unseres Gleichgewichtsinns, sondern auch als ein Phänomen der Sinnstiftung und im Sinne von Gefühl und Orientierung. Und dieses Zusammenspiel von Sinn und Fühlen, von kulturellen Konstrukten und Sinnlichkeit, von somatischem, metaphorischem und kognitivem Wissen kann als ein komplexes Verhältnis von Entstehung und Auflösung, von Gewöhnung und von Transformation begriffen werden. Es wirkt auf unsere gemeinsame erlebte Realität und unsere individuellen Erfahrungen. Außerdem verdeutlicht es die kulturelle Prägung sowie individuelle und kollektive Erfahrungen. Das Gleichgewicht und die Neuanpassung dieser Zusammenhänge orientieren uns und beeinflussen unsere Fähigkeit, Zustände des Taumels auszubalancieren.
Balanceübung im Freien
Und um das nun zu verdeutlichen und unseren Balancesinn zu erleben, möchten wir gemeinsam eine Balanceübung im Freien machen.
R: Und das hat auch den Vorteil, dass man ganz easy lernen kann, wie man sein Gleichgewichtsorgan trainiert. Der Balancesinn, unser Gleichgewichtssinn, nimmt ganz viel an visueller Information auf. Und üblicherweise balancieren wir uns über das, was wir sehen aus.Um das auszuschalten und unseren Gleichgewichtssinn bei der Arbeit zu erleben, machen wir die Augen zu. Die einfachste Art, sein Innenohr zu trainieren, ist, die Augen zu schließen und auf einem Bein zu stehen. Und ich würde euch jetzt einladen, dass ihr das einfach ausprobiert. Augen schließen und auf einem Bein stehen.
Geht das?
L: Genau probiert das aus.
R: Ihr habt ja zwei Beine, also ihr könnt abwechseln und schauen, was geht leichter.
L: Genau, probiert auf welchem Bein ihr sicherer steht.
R: Dann kann man weiter probieren: macht es einen Unterschied, ob ich das Bein langsam hebe oder schnell?
L: Wenn ihr herausgefunden habt, auf welchem Bein das Balancieren gut geht, gibt es noch eine zweite Hilfe: Wenn ihr die Augen zu macht, berührt euch ganz vorsichtig am Brustbein, das stärkt die Propriozeption.
R: Also die Selbstwahrnehmung des Körpers ...
L: ... im Raum. Vielleicht geht es dann leichter. Probiert es mal aus.
R: Ich finde ja die Berührung am Bauch ist angenehmer.
L: Genau das trainiert jetzt einmal, mit geschlossenen Augen. Da ist jetzt euer Gleichgewichtssinn ziemlich aktiv.
R: Wenn ihr jetzt schon ein bisschen herausgefunden habt, wie ihr gut balanciert, sucht euch doch irgendeinen Bezugspunkt hier. Sowas wie die Wand. Und versucht es mit dem im Hintergrund, dass ihr euch da immer wieder, wenn ihr aus dem Gleichgewicht geratet, abstützen könnt.
L: Das kann ein Baum sein, darf auch gerne die Wand sein. Das heißt aber, stützt euch erst ab, wenn ihr aus dem Gleichgewicht kommt – also berührt es nicht gleich, sondern erst, wenn ihr aus dem Gleichgewicht kommt – versucht euch mit dieser Hilfe zu orientieren und vielleicht wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Vielleicht braucht ihr sie nur ganz leicht anzutippen, vielleicht reicht das schon. Versucht es wieder auf dem Bein, auf dem es euch leichter fällt.
R: Wie fühlt sich das an, wenn man die Augen zu hat?Es gibt da einen Punkt, wo man sich wieder aufrichten kann. Der hilft, die Balance wieder zu finden. Wie verändert das den Bezug zur Umwelt? Was braucht man von seiner Umwelt, wenn man versucht die Balance zu finden?
R: Gut. Nachdem wir jetzt die Sicherheit in der Umgebung gesucht haben, kommen wir zum letzten Teil. Jetzt stellen wir uns ein bisschen näher aneinander. Und zwar so, dass wir, wenn wir taumeln, ganz leicht die Anderen an der Schulter berühren können.
L: Und ganz wichtig ist, versucht euren Nachbarn*Nachbarin erst in dem Moment, wo ihr in Unsicherheit kommt zu berühren. Nicht schon damit starten, sondern erst im Moment der Unsicherheit. Also, ihr schließt die Augen, hebt ein Bein, versucht zu balancieren und beobachtet, was das bedeutet.
R: Wie fühlt sich das jetzt an, wenn man weiß, die anderen taumeln und man selber auch.
R: Es gibt einen berühmten Seiltänzer aus dem 19. Jahrhundert, Charles Blondin. Der hat seinen Manager auf seinen Schultern über das Seil getragen, das über die Niagara-Fälle gespannt war. Blondin hat vorher zu ihm gesagt: Be part of me, mind , body and soul-if I sway, sway with me: Also, wenn ich schwanke, schwanke mit mir. Mach keine Gegenbewegungen! Geh zart mit allen Bewegungen die ich mache. Das ist wirklich ein wichtiger Punkt, dass man nicht unbedingt gegenarbeitet, sondern dass, auch wenn man aus dem Gleichgewicht gerät, versucht vorsichtig miteinander zu schwingen, und dass die Bewegungen zart sind. Also dass man sich nicht anklammert, aneinander, wie ein Ertrinkender.
L: Okay, damit wollen wir es eigentlich auch schon belassen, mit dieser letzten Balanceübung, vielen Dank.
R: Das ist, wie gesagt, wirklich die einfachste Art sein Innenohr zu trainieren. Wer das möchte, hat nun eine gute Übung.











Was ist künstlerische Forschung?
R: Künstlerische Forschung ist ein weiter Begriff. Fangen wir damit an, uns zu überlegen, was macht denn künstlerische Forschung? Wir haben dazu ein Zitat mitgebracht, das wir sehr mögen. Das ist von Juha Varto, einem finnischen Philosophen. Varto sagt, was künstlerische Forschung so besonders macht, oder was sie anders macht, ist, künstlerische Forschung: „takes seriously art's own way of operating, its manifestations and methods of conveying something to others, either through whispers, screams or discussions”. Also künstlerische Forschung nimmt die Arbeitsweise der Kunst ernst in all ihren Erscheinungsformen und Methoden. Sei es durch Flüstern, durch Schreie oder in Diskussionen. Darüber hinaus meint Varto aber auch, dass Kunst die Fähigkeit hat, die Welt zu ändern. „Art has the ability to change the world but not by money or force but by orientation. By radically transforming the ‘sensible’, or sensory, reality of the eye, ear [wir fügen da gern dazu: the sense of balance] taste, touch and smell, which unavoidably results in a change in ideas, understanding and insight.”
Also unser Blick auf die Welt, unser sensorisches Empfinden der Welt verändert auch unsere Perspektiven, unsere Ideen und unsere Einsichten. Das bewegt uns dazu, die Welt nicht nur anders wahrzunehmen, sondern sie auch anders zu gestalten.
Künstlerische Forschung zum Taumel
R: Wir betreiben künstlerische Forschung zum Taumel im Gegensatz zum Schwindel.
L: Wir sprechen also von Taumel, nicht vom Schwindel. Warum? Das Wort Taumel beschreibt sowohl das innere Erleben eines Schwindelzustands als auch das von außen wahrnehmbare Bewegungsbild eines taumelnden Körpers im Raum. Der Taumel ist ein altes, aber auch sehr ambivalentes Wort, das in in emotionalen und mechanischen zu somatischen und a metaphorischen Kontexten verwendet wird. Das Erleben des Taumels ist ein Erleben von unvorhersehbarer Bewegung oder dem Eindruck einer solchen Bewegung, die uns in Folge aus dem Gleichgewicht bringt. Den Taumel begreifen wir also als einen Wechsel vom sicheren zum unsicheren Zustand, der von einem Gefühl von Bewegung begleitet wird und – das ist wichtig – unsere Beziehung zur Umgebung aus der Balance bringt. Unsere Arbeit, unsere künstlerische Forschung – wir arbeiten über 15 Jahre zum Taumel – vertritt die These, dass dieses „außerhalb der Balance“ auch eine Möglichkeit ist, uns einen Möglichkeitsraum eröffnet.
R: Was wir hier sehen, ist eine Arbeit von Alberto Giacometti „L‘Homme qui chavire“. Das Werk geht vermutlich auf ein Erlebnis zurück, das Giacometti hatte. Er hatte einen Unfall, ich glaube es war im Jahr 1938, da ist ihm ein Auto über den Fuß gefahren und hat ihn so zu Fall gebracht. Das hat er dann in mehreren Skizzen und später auch 1950 in dieser Bronze verarbeitet. Wie Leo schon gesagt hat, uns interessieren sowohl die individuellen als auch die sozialen Aspekte, die emotionalen somatischen Aspekte, aber auch die gesellschaftlichen und politischen Dynamiken des Taumels. Wir betrachten also den Taumel als ein Phänomen, das in unterschiedlichen Größenordnungen, Skalierungen, in unterschiedlichen Schattierungen auftritt. In ihrer Arbeit High Wire verbindet die britische Künstlerin Catherine Yass ihre Kritik am Aufgeben des sozialen Wohnbaus mit dem Drahtseilakt eines Seiltänzers. Sie hat dazu einen spezifischen Ort gewählt – in Glasgow – diese Gebäude gibt es nicht mehr, die waren damals ein Leuchtturmprojekt des sozialen Wohnbaus. Das ist dann später aufgegeben und abgerissen worden. Sie verbindet die Utopie eines sozialen Wohnbaus mit dem Drahtseilakt eines Seiltänzers. Wir sehen dazu einen kurzen Ausschnitt.
Übung zum Balancesinn
Wir werden unser Balanceorgan aktivieren, mit einer Übung, die wieder zeigt, dass andere sensorische Einflüsse das vestibuläre System mitbestimmen. Es ist jeder*jede eingeladen mitzumachen, so wie er*sie möchte und sich wohlfühlt. Man kann sich die Bewegung auch einfach nur vorstellen, wenn einem das lieber ist.
L: Wir brauchen jetzt ein bisschen Platz. Wir stellen uns so hin, dass wir gut stehen können. Wer nicht stehen will kann auch sitzen, wie sich jede*r wohlfühlt.
Vielleicht ist es noch wichtig dazu zu sagen, das geht jetzt in den Bereich des somatischen Lernens. Das somatische Lernen ist ganz wunderbar, weil es funktioniert sehr langsam. Es ist insofern auch wunderbar, weil man die Bewegungen, die ich jetzt anbieten werde, langsam ausführen kann. Sie müssen nicht sehr groß ausgeführt werden, und vielleicht sogar das Wichtigste ist, dass man sich überlegt, von wo der Impuls dieser Bewegung ausgeht. Jeder macht wie/wo er möchte und wie schon Ruth angedeutet hat, man kann sich die Bewegung auch einfach nur vorstellen, wenn man nicht in der Lage ist sie auszuführen.
Ich wechsle jetzt ins Du und möchte als erstes vorschlagen, dass du mal wahrnimmst, wie du dastehst; wie du mit deinen Füßen auf dem Boden stehst und wie du mit deinen Füßen organisiert bist. Stelle eine Verbindung zu deiner Hüfte her. Und achte jetzt auf deinen Atem. Atmest du schnell oder bist du schon ein bisschen zur Ruhe gekommen? Nun überlege, wie deine Schulter im Bezug zur Hüfte organisiert ist. Stelle dir eine Linie vor, vom Kopf bis zu den Füßen. Und wenn du dein Bild für dich entwickelt hast, achte noch einmal darauf, wie du atmest. Drehe deinen Kopf nun ganz langsam von der linken Seit zur rechten Seite und versuche dabei dir eine Horizontlinie vor dir vorzustellen. Wenn das mit offenen Augen schwerfällt, kannst du es auch mit geschlossenen Augen machen. Und wenn du in der Bewegung wieder in der Mitte angelangt bist, dann versuche, dir nochmal diese Horizontlinie vorzustellen und überlege, wo deine beiden Augen in Relation dazu lokalisiert sind. Ist ein Auge ein bisschen über dieser Horizontlinie, ist ein Auge eventuell darunter? Wie bewegebn sich deine Augen in Relation zu diesem Horizont?
Wenn du jetzt ein Bild davon hast, beginne ganz langsam deine rechte Schulter zu heben. Ganz langsam. Das kann eine ganz kleine Bewegung sein. Und lass sie wieder herunter. Wiederhole das jetzt noch ein paar Mal. Beginne mit einer kleinen Bewegung, hebe deine Schulter, und dann lass es wieder sein. Nun machst du eine kurze Pause und nimmst wahr, wie sich deine Schulter anfühlt. Als nächstes bring deinen Kopf langsam zur rechten Schulter, die sich jetzt aber nicht bewegt. Mach das wieder mit einer ganz kleinen Bewegung; bewege dann den Kopf wieder retour. Mache das ein paar Mal. Mit einer ganz leichten Bewegung. Du bringst den Kopf zur rechten Schulter und dann bringst du deinen Kopf wieder in die Mitte. Deine Schulter bleibt dabei ruhig.
Als nächstes hebe deine rechte Schulter Richtung Kopf und beuge gleichzeitig deinen Kopf zur rechten Schulter. Das wird auch wieder eine ganz kleine Bewegung. Mach das ganz langsam und nimm auch wahr, wie diese Bewegung durch deinen Körper wandert. Was nimmst du in deinem Brustkorb wahr? Wie ist dein Brustkorb bei dieser Bewegung organisiert ist? Mach die Bewegung noch einmal. Dann mach eine Pause.
Unsere nächste Variante ist folgende: Bringe jetzt die rechte Schulter und den Kopf ein bisschen zusammen und halte ihn dort.
Stelle dir jetzt vor, dass du zwischen Kopf und Schulter einen kleinen Stock hast, so groß wie einen Bleistift. Diesen Abstand halte jetzt. Der Abstand soll angenehm sein, damit du dich möglichst wenig anstrengen musst und dabei natürlich atmen kannst. Als nächstes probiere aus, die rechte Hüfte ganz leicht zu heben und wieder zu senken. Mach das ein paar Mal und dann lass das und komm in die Mitte und mach eine Pause.
Jetzt komm wieder zurück. Senke deinen Kopf leicht nach rechts Richtung rechte Schulter, fixiere diesen Abstand mit deinem imaginären Bleistift und versuche jetzt die linke Hüfte zu heben. Mach das mit so wenig Anstrengung wie möglich. Halte deinen Kopf zur rechten Seite, hebe deine rechte Schulter, stelle dir den Bleistift vor, und hebe deine linke Hüfte. Reduziere deine Anstrengung wieder. Eine ganz kleine Bewegung. Atmen ist erlaubt. Und komme wieder in die Mitte. Mach eine kurze Pause.
Dann komm wieder zurück in deine Position. Den Kopf wieder nach rechts und die rechte Schulter heben. Und jetzt bewege deine Hüfte ganz vorsichtig nach vorne. Mit wenig Anstrengung. Bring sie wieder zurück, und nun bewege deine Hüfte ganz sanft nach hinten. Und zurück. Und jetzt wieder nach vorne, wie eine kleine Pendelbewegung, aber nur ganz klein und sanft.
Versuche jetzt einen Kreis mit deiner Hüfte zu machen. Wichtig ist aber wie immer, dass wir den Kopf und die Schultern wie mit einem kleinen, imaginären Stock verbunden in dieser Position und den selben Abstand halten. Genau so, und jetzt mach kreisende Bewegungen mit deiner Hüfte.
Und jetzt überleg einmal, wo du diese Kreisbewegung überall wahrnimmst. Machst du mit dem Kopf eine kleine Kreisbewegung? Vielleicht beim Brustkorb eine Kreisbewegung?
Mach das mit so wenig Anstrengung wie möglich. Das ist nur eine ganz kleine Kreisbewegung. Lass das und komm wieder in die Mitte. Und jetzt mach die Augen zu, wenn du sie nicht eh schon zu hast und stell dir doch mal diesen Horizont vor, mit die Übung begonnen hat.
Du kannst den Kopf ganz leicht nach links drehen und wieder nach rechts Und jetzt versuche wieder zu verstehen, oder wahrzunehmen in welchen Relationen deine Augen zu diesem Horizont sind. Ist eventuell ein Auge höher oder niedriger. Ist das vielleicht anders, als zu Beginn?
Wenn du das für dich ein bisschen herausgefunden hast, dann öffne deine Augen. Und komm langsam wieder zu dem Platz, von dem du begonnen hast.
Vom Gleichgewichtssinn, Innenohr und dem vestibulären System
R: Wir haben unseren Gleichgewichtssinn nun wieder aktiviert, und werden auf seine Physiologie eingehen. Unser Gleichgewichtssinn ist im Innenohr zu Hause. Ich möchte gleich vorwarnen: ich bin sehr begeistert vom Innenohr und vom vestibulären System.
Das Innenohr ist gleich in zwei physiologische Prozesse eingebunden, ins Hören, ins auditorische System und in den Gleichgewichtssinn, ins vestibuläre System. Seine vestibuläre Funktionsweise, also die Funktionsweise für unseren Gleichgewichtssinn, misst die Auf- und Abwärtsbeschleunigung und die Rotationsbeschleunigung unseres Körpers im Raum, und setzt uns immer in Relation zur Schwerkraft. Das Innenohr und vor allem das vestibuläre System ist das letzte menschliche Sinnesorgan, das entdeckt wurde. Nämlich erst im 19 Jahrhundert von einem französischen Arzt namens Prosper Menière, nach dem auch eine Schwindelerkrankung benannt wurde. Nach wie vor ist das ein Sinnesorgan oder ein Sinn, den wir besitzen, der oft übersehen und vergessen wird. Dabei hat er sich schon sehr früh entwickelt und viele Lebewesen verfügen über ein ähnliches Sinnesorgan. Also nicht nur wir Säugetiere haben ein Innenohr, sondern auch andere Wirbeltiere: Vögel, Fische, aber auch Weichtiere, Einzeller und sogar Pflanzen. Die haben einen sogenannten gravitropischen Sinn, der ihnen erlaubt, sich im Bezug zur Schwerkraft zu bewegen. Bewegen heißt bei einer Pflanze wachsen. Der gravitropische Sinn erlaubt der Pflanze, das Wachstum der Wurzeln nach unten zu richten. Und das Wachstum des Stängels, oder des Keimlings, nach oben zu richten. Dadurch kann ein Samen, der noch im Boden ist, nach oben finden, zum Licht finden und wachsen.
Unser menschlicher Balancesinn wirkt sich aber nicht nur auf unsere Fähigkeit aus, das Gleichgewicht zu halten und unsere Position im Raum wahrzunehmen, sondern auch auf die Fähigkeit, uns zu orientieren. Darüber hinaus hat unser Balanceorgan Einfluss auf unser emotionales Gleichgewicht, auf unsere Gedächtnisfähigkeit, auf unser Selbstbild und das Bild, das wir uns von unserer Umgebung machen. Ein verbesserter Balancesinn kann zum Beispiel die Wahrscheinlichkeit von Angsterkrankungen reduzieren. Das nützen unsere eigenen Kinder weidlich aus und meinen, sie dürfen auf jedes Karussell, jede Fahrt, weil es gut für ihren Balancesinn ist. In diesem Sinnesorgan wird die Beschleunigung der Rotationsbewegung gemessen und die Beschleunigung der Auf- und Abwärtsbewegung. Optimal genutzt wird das auf einem Kettenkarussel, das sich nicht nur um sich selbst dreht, sondern auch noch auf- und abfährt. Karussellfahren oder Schauckeln ist tatsächlich gut für den Gleichgewichtssinn. Ein regelmäßiges und anspruchsvolles Balancetraining kann unsere Gedächtnisfähigkeit verbessern. Aber unser Balanceorgan lässt uns auch Taumelzustände erleben.
L: Wenn wir geboren werden, verlassen wir die reduzierte Schwerkraft im Mutterleib und die Kräfte der Gravitation wirken erstmals in voller Stärke auf uns ein. Diese Bodenhaftung ist von diesem Moment an unser Bezugspunkt, die implizite Orientierung unserer Körper, unserer Handlungen und unseres Denkens. „Sich geerdet fühlen“, „Boden gewinnen“, „Boden unter den Füßen verlieren“ oder „gemeinsamen Boden finden“ sind nur einige Beispiele für die vielen Metaphern, die zeigen, wie bestimmend das Gefühl der Schwerkraft ist: Nicht nur für uns und für unsere Körper, Gebäude und technischen Innovationen, sondern für die kulturelle Struktur unserer Kommunikation und unseres Denkens.
Ich möchte noch einmal kurz auf die Funktionsweise des Innenohrs eingehen. Auf der Abbildung sehen wir jetzt nur noch den Teil, der für das vestibuläre System wichtig ist. Wie gesagt, das ist ein altes Sinnesorgan, das sich vor rund 500 Millionen Jahren im Innenohr entwickelt hat. Das Hören kam eigentlich erst später dazu, die Funktionsweisen dieser beiden Sinne sind aber sehr ähnlich aufgebaut. Was wir hier sehen, sind die knöchernen Bogengänge. Das sind dieses drei und hier das ist das sogenannte Vestibulum. In den drei Bogengängen wird die Beschleunigung der Rotationsbewegung gemessen, also wenn ich zum Beispiel meinen Kopf neige. Dann werden die unterschiedlichen Bogengänge aktiviert, die die Beschleunigung meiner Rotationsbewegung messen. Sacculus und Utriculus beherbergen das Makulaorgan. Das misst, könnte man vereinfacht sagen, die Auf- und Abwärtsbewegung. Da sind kleine Kristalle drinnen, Otholiten, die auf Haarzellen bewegt werden, und so unsere Position im Raum in Relation zur Schwerkraft feststellen. Das vestibuläre System ist also das Organ, mit dem wir Schwerkraft fühlen und wahrnehmen können. Gemeinsam mit der Cochlea bilden die Bogengänge und das Vestibulum das Labyrinth des Innenohrs. Es sendet Signale an die neuronalen Strukturen, die beispielsweise unsere Augenbewegungen kontrollieren, aber auch an unsere Propriozeption, mit der wir unsere Körperhaltung ausrichten. Der Balancesinn ist ein multimoddaler Sinn, das heisst, er bezieht die Signale vom Innenohr und visuelle, auditive, interozeptive und propriozeptive Sinneserfahrungen mit ein. Das haben wir bei den Übungen gemerkt, als wir auf einem Bein stehend die Augen geschlossen, also auf den visuellen Sinn verzichtet haben. In den letzten Jahren haben sich die Anzeichen verdichtet – belegt über verschiedene Studien aus Neurowissenschaften, Medizin, Psychobiologie – dass der Beitrag des vestibulären Systems weit über die Funktionsweise des Gleichgewichtshaltens hinausgeht.
Das vestibuläre System beeinflusst also willkürliche motorische Kontrolle, unsere Orientierung im Raum und Selbstwahrnehmung und emotionale Balance. Es leistet einen Beitrag zum Gedächtnis, insbesondere zum räumlichen Gedächtnis. Aber ein Balancetraining kann auch die explizite Merkfähigkeit verbessern. Das meint, zum Beispiel, sich schwierige Vokabeln für eine Fremdsprache merken können.
Da sich das vestibuläre System zuerst bei wirbellosen Tieren entwickelt hat, um Vertikalität und Schwerkraft zu erkennen, ist es wahrscheinlich, dass das zentrale Nervensystem eine besondere Abhängigkeit von vestibulären Informationen entwickelt hat. Zusätzlich gibt es Hinweise dafür, dass eine Störung im vestibulären System oder sein Verlust auch kognitive und emotionale Störungen hervorruft. Es ist nicht nur so, dass ein gut trainierter Balancesinn Angsterkrankungen verhindern kann, sondern auch andersrum. Wenn ich eine Infektion oder eine Störung, eine Erkrankung im Innenohr habe, hat das auch psychische Auswirkungen. Also, Patienten mit vestibulären Störungen berichten zum Beispiel über Persönlichkeitsveränderungen, wie das Gefühl, abwesend zu sein, nicht mehr in Kontakt mit der Welt zu sein, sich fremd zu fühlen oder keine Kontrolle über sich zu haben. Das „keine Kontrolle über sich haben“ kann man auch ganz gut selbst testen, indem man sich schnell um sich selbst dreht und dann versucht, geradeaus zu gehen. Das wird schwierig. Aber diese Symptome deuten darauf hin, dass das vestibuläre System einen ganz einzigartigen Beitrag zu unserem Konzept von Selbst leistet, indem es uns Informationen über Selbstbewegung und Selbstlokalisierung liefert. Es erlaubt uns, die Unterscheidung zwischen dem, was wir als Selbst wahrnehmen, und dem, was wir als Außenwelt wahrnehmen, zu machen.
Es erlaubt uns auch zu unterscheiden, welche Bewegung die Außenwelt macht und welche Bewegung wir selbst machen. Wenn wir zum Beispiel seekrank werden, stimmt das nicht mehr überein, wir können nicht mehr unterscheiden, welche Bewegung außen und innen ist und uns wird übel. Zu Bewegung hat der Neurowissenschaftler Christophe Lopez, der in Marseille forscht, eine Studie gestaltet, die ich besonders interessant finde. Er geht davon aus, dass es so etwas wie vestibuläre Spiegelneuronen gibt. Und er hat diese Studie so aufgesetzt, dass er zwei Leute auf Stühlen hatte, die er langsam drehen konnte. Die Testpersonen wussten nicht, ob sie gedreht und wann sie gedreht werden, aber sie sollten antworten, wann sie glaubten, dass sie sich selbst bewegen, wann sie glaubten, dass sich der andere bewegt. Vorher haben alle Testpersonen einen psychologischen Test zu ihrer Empathiefähigkeit gemacht. Bei dieser Studie kam heraus, dass Menschen mit hoher Empathiefähigkeit sehr früh die Bewegung der anderen wahrgenommen haben, manchmal sogar schneller als die Selbstbewegung. Also ein sehr empathischer Mensch kann die Bewegung anderer Leute vermutlich so früh wahrnehmen, dass er*sie gar nicht gleich merkt, wenn er*sie sich selbst auch bewegt. Das Beobachten von Menschen in Bewegung ist ein wesentlicher Bestandteil unseres sozialen Lebens. Wenn jemand auf mich zukommt, möchte ich vielleicht auf die Person zugehen oder mich von dieser Person entfernen. Also das Erleben von Eigenbewegung und der Bewegung anderer Personen im Raum ist für das soziale Miteinander wirklich wichtig. Und für uns ist das auch im Bezug auf das Kreieren von Sinnzusammenhängen im Taumel essenziell. Also gerade, wenn wir selbst aus der Balance geraten, aber nur die Bewegung der Anderen wahrnehmen, ist das nicht unproblematisch.
CV
L: Wir sind Ruth Anderwald und Leonhard Grond, wir kommen aus Wien, wir arbeiten im Bereich künstlerischer Forschung, wir arbeiten als ein Paar schon sehr lange zusammen.
R: Und wir laden, damit es nicht langweilig wird, auch andere Leute in unserer Praxis ein. Das wird man jetzt auch merken. Also wir werden einige Quellen haben, die nicht unbedingt von uns, oder auch gar nicht unbedingt aus der Kunst kommen.
Projektblog zur künstlerischen Forschung zum Taumel
http://www.on-dizziness.org/
Podcast ‚On Certain Groundlessness – Navigating Dizziness Together‘
https://www.on-dizziness.com/resources-overview/podcast